Bei Vermessungsfehlern, Ausführungsfehlern oder wenn sich die Beteiligten vor der Bauausführung gar keine Gedanken zum Grenzverlauf machen, kann ein Überbau entstehen. Die betroffenen Nachbarn zeigen sich in solchen Fällen selten erfreut. Das führt teilweise zu erheblichen Schwierigkeiten, da etwa beim rechtzeitigen Nachbarwiderspruch in einzelnen Fällen die ganz oder teilweise erstellten Gebäude(teile) abgerissen / verschoben werden müssen, was wiederum umfangreiche Streitigkeiten zwischen den am Bau Beteiligten verursachen kann. Wie werden die entstehenden Konflikte zwischen den Bauherren und den Nachbarn vom Gesetzgeber und den Gerichten gelöst?
I. Definition
Ein Überbau liegt vor, wenn ein einheitliches Gebäude bei seiner Errichtung auf zwei Grundstücken hergestellt wird, also in den Boden (z.B. Keller) oder Luftraum (z.B. Balkon) des Nachbargrundstücks ragt (Brückner in: MüKo, BGB, § 912 BGB Rn. 10). Die Überbau-Regelungen gelten (analog) auch für Gebäude, die sich etwa wegen der Altersschwäche über die Grenze neigen (Rösch in: Herberger/Martinek/Rüßmann/Weth/Würdinger, BGB, 9. Aufl. 2020, § 912, Rn. 7).
II. Voraussetzungen der Duldung
Beim Vorliegen entsprechender Voraussetzungen muss der betroffenen Nachbar den Überbau nach § 912 BGB dulden, kann hierfür jedoch eine Entschädigung verlangen, §§ 913 f. BGB.
912 BGB schränkt die Eigentumsrechte des Nachbarn ein, der ohne diese Norm bzw. außerhalb des Geltungsbereichs dieser Norm nach den §§ 946, 93, 94 I BGB auch das Eigentum am überbauten Gebäudeteil erwerben würde bzw. gemäß § 1004 I 1 BGB uneingeschränkt die Beseitigung des Überbaus verlangen könnte.
Die Duldungsvoraussetzungen sind:
1. Eigentümer
Der Überbau muss vom Eigentümer verursacht worden sein. Die Duldungspflicht des Nachbarn besteht auch dann, wenn der Eigentümer dem vom Nichteigentümer hergestellten Überbau zustimmt oder wenn der Nichteigentümer zum Eigentümer wird (BGHZ 15, 216).
2. Gebäude
Ausweislich des Wortlauts des § 912 BGB fallen nur Gebäude in den Anwendungsbereich, also nicht etwa Tore, Denkmäler (Rösch in: Herberger/Martinek/Rüßmann/Weth/Würdinger, BGB, 9. Aufl. 2020, § 912, Rn. 2) etc.
3. Weder Vorsatz noch grobe Fahrlässigkeit
Im Zeitpunkt der Grenzüberschreitung darf sich der / die Überbauende höchstens mittlere Fahrlässigkeit vorwerfen lassen, andernfalls trifft den Nachbarn keine Duldungspflicht. Umstritten ist, ob das Verschulden des Architekturbüros und des Bauunternehmens zuzurechnen ist.
4. Fehlender sofortiger Widerspruch
Die Duldungspflicht setzt zudem voraus, dass der Nachbar dem Überbau nicht sofort widersprochen hat.
III. Rechtsfolgen: Duldung, Entschädigung
Liegen die aufgezählten Voraussetzungen vor, muss der Nachbar den vorhandenen Überbau (jedoch nicht die spätere Erweiterung, BGHZ 64, 273) dulden, kann allerdings eine Entschädigung gemäß §§ 913 und 914 BGB verlangen, s. auch § 915 BGB.
IV. Länderspezifische Besonderheiten
In Bayern ist in § 46a AGBGB geregelt, dass ein durch Wärmedämmung einer Grenzmauer / Kommunmauer entstehende Überbau auch dann zu dulden ist, wenn insbesondere eine vergleichbare Wärmedämmung auf andere Weise mit vertretbarem Aufwand nicht möglich ist und die Benutzung des Nachbargrundstücks höchstens geringfügig beeinträchtigt wird. Ähnliche Regelungen existieren auch in anderen Bundesländern (BGH, Urteil vom 12. November 2021 – V ZR 115/20)
V. Fazit
Nicht selten führen die Nachbarn kein friedliches Nebeneinander. Die Herstellung bzw. die Entdeckung eines Überbaus ist oft die Keimzelle für manchmal jahrelange Nachbarstreitigkeiten, weshalb die Suche nach einer möglichst einvernehmlichen Lösung für alle betroffenen Nachbarn ein wichtiges Ziel darstellen dürfte. Soweit die Fronten für eine solche Lösung zu verhärtet sind, ist die Durchsetzung der Rechte anhand der oben dargelegten Kriterien zu prüfen.
Dr. Alexander Seidenberg, Rechtsanwalt, Fachanwalt für Bau- und Architektenrecht
Elias Wagner, Rechtsanwalt