Archiv der Kategorie: Baurecht

Gewährleistungsansprüche und doppelte Fristsetzung

Eine vor der Abnahme gesetzte Mangelbeseitigungsfrist kann ausreichen, um nach der Abnahme wegen derselben Mängel die Gewährleistungsansprüche geltend zu machen.

1. Sachverhalt

Das OLG Hamm (27.09.2022 – 24 U 57/21) hat sich mit der Frage befasst, ob die Fristsetzung für die Mangelbeseitigung vor der Abnahme ausreicht oder für die Entstehung des Anspruchs auf Vorschuss zur Mängelbeseitigung (§ 637 BGB) nach der Abnahme eine erneute Mangelbeseitigungsrist gesetzt werden muss.

Nach der Fristsetzung zur Mangelbeseitigung erklärte der Auftraggeber im zugrundeliegenden Fall die Abnahme; danach hat er keine weitere Frist gesetzt.

2. Argumentation des Gerichts

Das Gericht hat entschieden, dass eine vor der Abnahme bei Fälligkeit des Erfüllungsanspruchs gesetzte Frist, die den Auftragnehmer zur Herstellung eines mangelfreien Werks auffordert, ausreichend ist. Für den Anspruch auf Vorschuss gemäß § 637 BGB muss nach der Abnahme nicht erneut eine Mangelbeseitigungsfrist gesetzt werden. Das Gericht argumentiert dabei mit der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zu Gewährleistungsrechten vor der Abnahme (BGHZ 213, 349 Rn. 47): Bereits ein Vorschussverlangen könne unter bestimmten Umständen zu einem Abrechnungsverhältnis führen. Die Fristsetzung im Zeitpunkt der Fälligkeit des Erfüllungsanspruchs reiche daher aus. Die Wiederholung der Fristsetzung nach der Abnahme sei nicht erforderlich.

Als weiteres Argument führt das Gericht die vom BGH angenommene Einheitlichkeit von Erfüllungsanspruch und Nacherfüllungsanspruch (vgl. OLG Hamm NJW 2019, 3240 Rn. 85 mwN) an. In der Konsequenz müsse dann auch eine Fristsetzung, die bei Fälligkeit des Erfüllungsanspruchs gesetzt werde, für den Nacherfüllungsanspruch ausreichen, soweit deren Inhalt identisch sei.

3. Rechtliche Beurteilung

Die Geltendmachung der Gewährleistungsansprüche, etwa der Ersatzvornahme, setzt in der Regel den fruchtlosen Ablauf einer Frist für die Mangelbeseitigung voraus, da der Auftragnehmer eine Chance erhalten muss, die Mängel nachzubessern, bevor der Auftraggeber weitergehende Rechte geltend machen kann. Ob eine vor der Abnahme gesetzte Frist hierfür ausreicht oder die Fristsetzung nach der Abnahme zu wiederholen ist, ist streitig.

Nicht nur in den Fällen der Abnahme, sondern auch (und erst recht) im Fall des Abrechnungsverhältnisses erscheint die erneute Fristsetzung für dieselben Mängel als reine Förmelei. Durch die Fristsetzung in der Erfüllungsphase erhält der Auftragnehmer eine ausreichende Möglichkeit, die Mängel zu beseitigen. Ein berechtigtes Interesse an einer weiteren Fristsetzung für dieselben Mängel nach der Abnahme hat er nicht. Etwas anderes kann allerdings gelten, wenn der Auftragnehmer etwa aufgrund der (vorbehaltlosen) Abnahme, also der Hinnahme und Billigung des Werks als im Wesentlichen vertragsgerecht (vgl. MüKoBGB/Busche BGB § 640 Rn. 2 m. w. N.), davon ausgehen kann, dass der Auftraggeber die Mangelbehauptungen nicht weiter aufrechterhält.

Aus der Sicht des Auftraggebers erscheint die doppelte Fristsetzung, also die erneute Fristsetzung nach der Abnahme, zur Vermeidung des oben beschriebenen Meinungsstreits sinnvoll, soweit sie noch möglich ist.

Abnahme

Ersatzvornahme vor der Abnahme?

Abnahme

Ist die Ersatzvornahme vor der Abnahme, also in der Erfüllungsphase, möglich oder erst nach der Abnahme, also in der Gewährleistungsphase?

1. Grundsatz

Ob die Abnahme eine Voraussetzung der Geltendmachung von Mängelrechten ist, war nach der Schuldrechtmodernisierung lange Zeit umstritten. Anders als im Kaufrecht fehlt es an einer ausdrücklichen gesetzlichen Regelung, in welchem Zeitpunkt die Mangelhaftigkeit einer Sache zu bewerten ist und der Besteller diese bemängeln kann. Überwiegend wurde vertreten, dass es auf den Zeitpunkt des Gefahrübergangs ankommt (vgl. Grüneberg/Retzlaff, § 633 Rn. 4). Beschaffenheitsveränderungen vor dem Gefahrübergang fallen in die Sphäre es Unternehmers (vgl. § 644 Abs. 1 BGB), später entstehende, negative Veränderungen fallen in den Gefahrbereich des Bestellers ohne Gewährleistungsansprüche auszulösen (vgl. Grüneberg/Retzlaff, § 633 Rn. 3).

Der Bundesgerichtshof (BGH vom 19.01.2017 – VII ZR 301/13) sieht die Abnahme grundsätzlich als Voraussetzung für die Geltendmachung von Gewährleistungsrechten, § 634 BGB. Folgende Gründe sprechen dafür:

  • Eine Nacherfüllung besagt schon begrifflich, dass vorher eine Erfüllung stattgefunden haben muss (vgl. BGH Urt. v. 19.1.2017 – VII ZR 301/13, Rn. 33). Die Erfüllung, die Herstellung des Werks, tritt regelmäßig zu dem Zeitpunkt ein, in dem der Unternehmer das Werk zur Abnahme anbietet.
  • Die Abnahme stellt eine Zäsur dar. Ab diesem Zeitpunkt besteht der Vergütungsanspruch und die meisten Verjährungsfristen beginnen ab diesem Zeitpunkt zu laufen.
  • Bei einer Gewährung der Rechte vor Abnahme bestünde die Gefahr der Verkürzung des Rechts des Auftragnehmers, seine Vorgehensweise der Herstellung frei zu wählen. Hieraus würde sich die Gefahr eines nicht hinnehmbaren Eingriffs in das Rechte des Unternehmers ergeben (BGH aaO, Rn. 32).
  • Soweit nicht auf die Abnahme als Zeitpunkt abgestellt wird, ist die Regelung für die Frage der Beweislast und des Gefahrübergangs unklar. Insbesondere kann das Angebot eines mangelhaften Werks keinen durch den Annahmeverzug (§§ 293 ff BGB) ausgelösten Gefahrübergang gem. § 644 Abs. 1, S. 2 BGB begründen. Ein solches Angebot erfordert nämlich die Bereitstellung der Leistung „so, wie sie zu bewirken ist“, vgl. § 294 BGB. Das setzt eine mangelfreie Leistung voraus (vgl. Grüneberg/Grüneberg § 294 Rn. 4).
  • Es besteht ein ausreichender Schutz des Bestellers / Auftraggebers durch das allgemeine Leistungsstörungsrecht sowie § 641 Abs. 3 BGB. Insbesondere kann in diesem Zusammenhang nicht auf die Problematik der Verschuldensabhängigkeit von Schadensersatzansprüchen (§§ 634 Nr. 2 und 3, 280 Abs. 1, S. 2 BGB) verwiesen werden, da der Unternehmer bei einem mangelhaften Werk die Voraussetzungen des Verstreichenlassens der Frist des § 281 Abs. 1, S. 1 BGB zumeist zu vertreten haben wird (vgl. JA 2017, 708)

2. Ausnahmen

In seiner Entscheidung hat der BGH jedoch auch klargestellt, dass es Ausnahmen von dem genannten Grundsatz gibt. Von der überwiegenden Literatur und Rechtsprechung wurde das auch vorher schon so vertreten, etwa wenn das Vertragsverhältnis bereits in ein Abrechnungsverhältnis übergangen ist (vgl. Grüneberg/Retzlaff § 634 Rn. 6).

Für die Frage, wann ein Abrechnungsverhältnis vorliegt, greift der BGH auf seine Rechtsprechung aus der Zeit vor der Schuldrechtsmodernisierung zurück. Danach entsteht ein Abrechnungsverhältnis, ausgelöst durch beiderseitige Abrechnung, wenn der Besteller gegenüber dem Unternehmer nur noch Schadensersatz statt der Leistung in Form des kleinen Schadensersatzes geltend macht oder die Minderung des Werklohns erklärt (vgl. BGH Urt. v. 11.5.2006 – VII ZR 146/04).

Das Abrechnungsverhältnis ist dann anzunehmen, wenn der Unternehmer das Werk zur Abnahme bereitstellt und der Besteller Schadensersatz statt der Leistung nach §§ 281 Abs. 1, 280 Abs. 1 BGB verlangt, da der Anspruch auf die Leistung nach § 281 Abs. 4 BGB dann ausgeschlossen ist. Gleiches gilt, wenn der Besteller im Wege der Minderung nur noch eine Herabsetzung des Werklohns erreichen will (vgl. BGH, NJW 2017, 1607). Auch in diesem Fall geht es nicht mehr um den Anspruch auf die Leistung und damit um die Erfüllung des Vertrags (vgl. BGH Urt. v. 19.1.2017 – VII ZR 301/13, Rn. 41; Grüneberg/Retzlaff § 634 Rn. 6). Diese ist dem Besteller sogar verwehrt (Vgl. BGH, NJW 2017, 1607.).

Im Zusammenhang mit einer Ersatzvornahme ist Folgendes zu beachten: Allein das Verlangen eines Vorschusses für eine Ersatzvornahme bedingt noch nicht automatisch, dass ein Abrechnungsverhältnis entsteht. Im Falle der Ersatzvornahme erlischt der Anspruch auf (Nach)Erfüllung  nicht ohne Weiteres (vgl. BGH Urt. v. 19.1.2017 – VII ZR 301/13, BeckRS 2017, 101777 Rn. 45.; a.A. Grüneberg/Retzlaff § 637 Rn. 4). Es liegt dann keine Situation vor, bei der es nur um die gegenseitige Verrechnung von Geldansprüchen geht. Würde man auch in diesem Fall eine Abnahme entbehrlich stellen, ergäbe sich daraus ein nicht hinzunehmender Eingriff in das Recht des Unternehmers auf freie Wahl der Vorgehensweise zur Herstellung.

Im Einzelfall kann das Verlangen eines Vorschusses für eine Ersatzvornahme trotzdem als Übergang in ein Abrechnungsverhältnis gewertet werden: soweit der Besteller deutlich macht, dass er unter keinen Umständen mehr eine (Nach-) Erfüllung durch den Unternehmer möchte und jegliche Zusammenarbeit ablehnt, kann das Verlangen nach einem Vorschuss für die Ersatzvornahme ausnahmsweise zur Annahme eines Abrechnungsverhältnisses führen. Grund dafür ist, dass die noch bestehenden Ansprüche nur noch auf Geld gerichtet sind (vgl. BGH Urt. v. 19.1.2017 – VII ZR 301/13  Rn. 45; Grüneberg/Retzlaff § 634 Rn. 6).

In so einem Fall besteht das Recht zur Ersatzvornahme bereits vor der Abnahme. Es erscheint interessengerecht, dem Besteller bei berechtigter Verweigerung der Abnahme auch dieses Mängelrecht schon vor der Abnahme zuzugestehen.

3. Weitere Voraussetzungen

Damit der Besteller sein Ziel, die Realisierung seines Mängelrechts, umsetzen kann, müssen neben dem Vorliegen eines Abrechnungsverhältnisses auch die weiteren Voraussetzungen des Rechts vorliegen. Insbesondere das Setzen einer Nachfrist darf im Zusammenhang mit § 637 BGB nicht übersehen werden und auch die Fälligkeit muss vorliegen (vgl. Grüneberg/Retzlaff § 634 Rn. 5, 6. Zu den Voraussetzungen bei Minderung und kleinem Schadensersatz vgl. BGH NJW 2017, 1607 und MDR 2017, 390).

4. Fazit

Zusammenfassend ist festzuhalten, dass der BGH dem Besteller zwar dem Grunde nach erst ab der Abnahme die Möglichkeit von Mängelrechten gewährt, davon aber eine Ausnahme macht, wenn die Voraussetzungen des Mängelrechts vorliegen und das Vertragsverhältnis in ein Abrechnungsverhältnis übergegangen ist (vgl. Schwab JuS 2017, 964, 966).

Schwarzbau

Schwarzbau trotz Baugenehmigung?

Schwarzbau

Weicht der Bauherr bei der Ausführung hinsichtlich der Identität des Bauvorhabens und seiner Wesensmerkmale so wesentlich von der Baugenehmigung ab, dass er nicht das genehmigte, sondern ein anderes Bauvorhaben, erstellt, erlischt die Baugenehmigung, ohne dass von ihr im Rechtssinn Gebrauch gemacht worden wäre (VGH München, Beschluss vom 13.05.2022 – 1 ZB 21.2603). 

1. Einleitung

Bei der Verwirklichung der Bauvorhaben kommen immer wieder kleinere und größere Abweichungen der baulichen Maßnahmen von der erteilten Baugenehmigung vor. Vor allem größere Abweichungen bergen erhebliche Risiken.

2. Sachverhalt

Im zugrunde liegenden Fall wichen die Kläger bei der tatsächlichen Bauausführung der Wohnbauvorhaben deutlich von der genehmigten Planung ab. Dies wurde nachträglich im Rahmen einer Baukontrolle des Landratsamts festgestellt. So wurde bspw. statt einem Carport, eine Doppelgarage errichtet, das Gelände aufgeschüttet und die Wandhöhe knapp 70 cm zu hoch erstellt. Daraufhin beantragte der Kläger eine ergänzende Tekturgenehmigung, um den Zustand zu legalisieren. Eine solche Genehmigung wurde vom Landratsamt verweigert. Hiergegen hat der Bauherr geklagt.

3. Gerichtsentscheidung

Im zitierten Urteil hat das Gericht ausgeführt, dass der Bauherr aufgrund erheblicher Abweichungen so zu behandeln sei, als hätte er gar keine Baugenehmigung erhalten, weil er etwas völlig anderes gebaut hat, ein aliud. Selbstverständlich stellt nicht jede Abweichung von der genehmigten Bauausführung gleich rechtlich ein aliud dar. Ein aliud ist anzunehmen, wenn durch die Abweichung Belange, die bei der Baugenehmigung zu berücksichtigen waren, so erheblich berührt werden, dass sich die Zulässigkeitsfrage des Bauvorhabens neu stellt (vgl. BayVGH, Urt. v. 26.10.2021- 15 B 19.2130). Die für die Identität des Bauvorhabens wesentlichen Merkmale seien Standort, Grundfläche, Bauvolumen, Zweckbestimmung, Höhe, Dachform und Erscheinungsbild. Vor allem wenn ein Bauvorhaben ohne Zerstörung seiner Substanz oder wesentlicher Teile mit der Baugenehmigung nicht in Übereinstimmung gebracht werden könne, sei es mit dem genehmigten Vorhaben nicht identisch. Die erteilte Baugenehmigung erlösche in diesem Fall. Dementsprechend könne keine Änderungsgenehmigung erteilt werden, da es an einer Genehmigung für dieses Vorhaben fehle. Eine neue Baugenehmigung sei nicht zu erteilen, da die hergestellten baulichen Anlagen nicht genehmigungsfähig seien.

4. Fazit

Die Rechtsfolgen einer Abweichung von der Baugenehmigung können gravierend sein. Die Bauaufsichtsbehörde kann im Anschluss an derartige Feststellungen, eine Baueinstellung bis hin zur einer Beseitigungsanordnung unter gleichzeitiger Androhung eines Zwangsgelds oder einer Ersatzvornahme aussprechen. Im geschilderten Fall hat der Bauherr die Baueinstellung ignoriert. Nun droht ihm voraussichtlich die Beseitigungsanordnung.

Dr. Alexander Seidenberg, Fachanwalt für Bau- und Architektenrecht

Vertragsstrafe, Auslegung einer AGB-Klausel

Bei den allgemeinen Geschäftsbedingungen, also dem von einer Partei vorformulierten Vertrag (dem „Kleingedruckten“), gilt laut einer Entscheidung des Bundesgerichtshofs (BGH, Urteil vom 05.05.2022 – VII ZR 176/20) im Zweifel die „verwenderfeindliche“ Auslegung. Wenn die vom Auftraggeber vorgegebene Klausel die Vertragsstrafe für die Überschreitung des vereinbarten Ausführungszeitraums vorsieht und zwar in Höhe von „5 % der Abrechnungssumme“, so ist darunter die Netto- und nicht die Bruttosumme zu verstehen, s. § 305c II BGB. Das ist die für den Auftraggeber und Verwender die ungünstigste Auslegung der Klausel, da auf diese Weise die Höhe der Vertragsstrafe am Nettobetrag gemessen wird und geringer ausfällt. Für die individuell ausgehandelte Klauseln gelten diese Grundsätze nicht.

Ansprüche des Nachbarn bei einer Abstandsflächenunterschreitung

BGH, Urteil vom 28.01.2022 – V ZR 99/21

Wird eine bauliche Anlage zu nah an der Grundstücksgrenze geplant, kann der Nachbar wegen der Unterschreitung der Abstandsflächen sowohl öffentlich-rechtliche Schritte gegen das Vorhaben einleiten als auch zivilrechtlich unmittelbar vom Bauherrn die Unterlassung und/oder Beseitigung verlangen. In der Rechtsprechung wird im letztgenannten Fall vom quasinegatorischen Beseitigungs- oder Unterlassungsanspruch des Nachbarn gegen den Bauherrn gesprochen.

1. Streitgegenstand

In dem vom Bundesgerichtshof entschiedenen Fall hat der Nachbar beantragt, dem Bauherrn zu untersagen, in einem Abstand von weniger als drei Metern zum Nachbargrundstück Rückkühlanlagen zu betreiben.

2. Entscheidung des BGH

Die Verletzung nachbarschützender Vorschriften des öffentlichen Baurechts kann nach ständiger Rechtsprechung (quasinegatorische) Beseitigungs- und Unterlassungsansprüche des Nachbarn gemäß § 1004 Abs. 1 Satz 1 bzw. Satz 2 BGB analog i.V.m. § 823 Abs. 2 BGB begründen. Zu solchen drittschützenden bzw. nachbarschützenden Normen zählen unter anderem die Vorschriften über die Abstandsflächen, die dafür sorgen, dass die Bauvorhaben nicht zu nah an die Nachbargrundstücke hergestellt werden, s. Art. 6 BayBO. Dabei reicht es für die Geltendmachung des Beseitigungs- und Unterlassungsanspruchs aus, dass die vorgeschriebenen Abstände nicht eingehalten werden, eine darüberhinausgehende Beeinträchtigung des Nachbarn durch das Vorhaben ist also keine Voraussetzung.

Etwas anderes gelte laut BGH jedoch dann, wenn die vorgeschriebenen Abstandsflächen zwar unterschritten seien, dies jedoch von einer (fehlerhaften) Baugenehmigung abgedeckt sei, gegen die kein rechtzeitiges Rechtsmittel eingelegt worden sei und die somit bestandskräftig geworden sei. Voraussetzung sei jedoch, dass die Abstandsflächen zum Prüfprogramm der Baubehörde bei Erteilung der Genehmigung gehöre und damit von der Legalisierungswirkung der Genehmigung erfasst seien. In Bayern seien die Abstandsflächen vom Prüfprogramm auch im vereinfachten Baugenehmigungsverfahren erfasst, Art. 59 Abs. 1 Nr. 1b BayBO. Die Legalisierungswirkung einer bestandskräftigen Genehmigung sei für die Zivilrichte bindend. Den Anspruch des Nachbarn auf die Einhaltung der Mindestabstandsflächen hat das Gericht daher abgelehnt.

Werden gegen die Baugenehmigung keine Rechtsmittel eingelegt, wird sie bestandskräftig und ist sowohl im Verhältnis zur Genehmigungsbehörde als auch im Verhältnis zum Nachbarn bindend.

3. Fazit

Auch wenn der Nachbar zivilrechtlich gegen den Bauherrn vorgehen möchte, darf er die öffentlich-rechtliche Schiene nicht aus den Augen lassen. Wird die Genehmigung durch Ablauf der Rechtsmittelfrist bestandskräftig, ist sie auch für die Zivilgerichte bindend.

Überbau

Bei Vermessungsfehlern, Ausführungsfehlern oder wenn sich die Beteiligten vor der Bauausführung gar keine Gedanken zum Grenzverlauf machen, kann ein Überbau entstehen. Die betroffenen Nachbarn zeigen sich in solchen Fällen selten erfreut. Das führt teilweise zu erheblichen Schwierigkeiten, da etwa beim rechtzeitigen Nachbarwiderspruch in einzelnen Fällen die ganz oder teilweise erstellten Gebäude(teile) abgerissen / verschoben werden müssen, was wiederum umfangreiche Streitigkeiten zwischen den am Bau Beteiligten verursachen kann. Wie werden die entstehenden Konflikte zwischen den Bauherren und den Nachbarn vom Gesetzgeber und den Gerichten gelöst?

I. Definition

Ein Überbau liegt vor, wenn ein einheitliches Gebäude bei seiner Errichtung auf zwei Grundstücken hergestellt wird, also in den Boden (z.B. Keller) oder Luftraum (z.B. Balkon) des Nachbargrundstücks ragt (Brückner in: MüKo, BGB, § 912 BGB Rn. 10). Die Überbau-Regelungen gelten (analog) auch für Gebäude, die sich etwa wegen der Altersschwäche über die Grenze neigen (Rösch in: Herberger/Martinek/Rüßmann/Weth/Würdinger, BGB, 9. Aufl. 2020, § 912, Rn. 7).

II. Voraussetzungen der Duldung

Beim Vorliegen entsprechender Voraussetzungen muss der betroffenen Nachbar den Überbau nach § 912 BGB dulden, kann hierfür jedoch eine Entschädigung verlangen, §§ 913 f. BGB.

912 BGB schränkt die Eigentumsrechte des Nachbarn ein, der ohne diese Norm bzw. außerhalb des Geltungsbereichs dieser Norm nach den §§ 946, 93, 94 I BGB auch das Eigentum am überbauten Gebäudeteil erwerben würde bzw. gemäß § 1004 I 1 BGB uneingeschränkt die Beseitigung des Überbaus verlangen könnte.

Die Duldungsvoraussetzungen sind:

1. Eigentümer

Der Überbau muss vom Eigentümer verursacht worden sein. Die Duldungspflicht des Nachbarn besteht auch dann, wenn der Eigentümer dem vom Nichteigentümer hergestellten Überbau zustimmt oder wenn der Nichteigentümer zum Eigentümer wird (BGHZ 15, 216).

2. Gebäude

Ausweislich des Wortlauts des § 912 BGB fallen nur Gebäude in den Anwendungsbereich, also nicht etwa Tore, Denkmäler (Rösch in: Herberger/Martinek/Rüßmann/Weth/Würdinger, BGB, 9. Aufl. 2020, § 912, Rn. 2) etc.

3. Weder Vorsatz noch grobe Fahrlässigkeit

Im Zeitpunkt der Grenzüberschreitung darf sich der / die Überbauende höchstens mittlere Fahrlässigkeit vorwerfen lassen, andernfalls trifft den Nachbarn keine Duldungspflicht. Umstritten ist, ob das Verschulden des Architekturbüros und des Bauunternehmens zuzurechnen ist.

4. Fehlender sofortiger Widerspruch

Die Duldungspflicht setzt zudem voraus, dass der Nachbar dem Überbau nicht sofort widersprochen hat.

III. Rechtsfolgen: Duldung, Entschädigung

Liegen die aufgezählten Voraussetzungen vor, muss der Nachbar den vorhandenen Überbau (jedoch nicht die spätere Erweiterung, BGHZ 64, 273) dulden, kann allerdings eine Entschädigung gemäß §§ 913 und 914 BGB verlangen, s. auch § 915 BGB.

IV. Länderspezifische Besonderheiten

In Bayern ist in § 46a AGBGB geregelt, dass ein durch Wärmedämmung einer Grenzmauer / Kommunmauer entstehende Überbau auch dann zu dulden ist, wenn insbesondere eine vergleichbare Wärmedämmung auf andere Weise mit vertretbarem Aufwand nicht möglich ist und die Benutzung des Nachbargrundstücks höchstens geringfügig beeinträchtigt wird. Ähnliche Regelungen existieren auch in anderen Bundesländern (BGH, Urteil vom 12. November 2021 – V ZR 115/20)

V. Fazit

Nicht selten führen die Nachbarn kein friedliches Nebeneinander. Die Herstellung bzw. die Entdeckung eines Überbaus ist oft die Keimzelle für manchmal jahrelange Nachbarstreitigkeiten, weshalb die Suche nach einer möglichst einvernehmlichen Lösung für alle betroffenen Nachbarn ein wichtiges Ziel darstellen dürfte. Soweit die Fronten für eine solche Lösung zu verhärtet sind, ist die Durchsetzung der Rechte anhand der oben dargelegten Kriterien zu prüfen.

Dr. Alexander Seidenberg, Rechtsanwalt, Fachanwalt für Bau- und Architektenrecht

Elias Wagner, Rechtsanwalt

 

Höhere Gewalt

Hohere Gewalt im Baurecht

Angefangen hat es mit einer kurzen kaum beachteten Meldung über eine namenlose Atemwegserkrankung, mittlerweile beherrscht Corona die Medien. Der Bau ist nach letzten Auswertungen derzeit weniger stark betroffen – das ifo-Institut spricht von einem bisher eher moderaten Geschäftsausfall – als manche anderen Branchen, doch auch um die Bauvorhaben hat Covid-19 keinen Bogen gemacht. Das fängt mit den zeitweise weniger stark besetzten Bauämtern und daraus resultierend vermutlich mit einer gewissen Verlangsamung bei der Erteilung von Baugenehmigungen und geht mit den von den Bauunternehmen versandten Mitteilungen weiter, dass coronabedingt mit deutlichen Verzögerungen am Bau zu rechnen sei. Die Auftragnehmer verweisen dabei oft auf höhere Gewalt. Zu Recht?

1. Was ist höhere Gewalt

Verzögerungen können einen Grund für eine außerordentliche Kündigung liefern (s. § 5 Abs. 4 i.V.m § 8 Abs. 3 VOB/B) und zu Ersatzansprüchen des Auftraggebers führen (§§ 286; §§ 280, 281 BGB). Das gilt jedoch nicht, wenn die zur Verzögerung führenden Umstände vom Auftragnehmer nicht zu vertreten sind.  Ersatzansprüche des Auftraggebers können im Fall der höheren Gewalt („Force Majeur“) wegfallen. Umgekehrt wird für den Fall der höheren Gewalt sogar der Entschädigungsanspruch des Bauunternehmers diskutiert (und in derzeitiger Situation verneint), wenn infolge behördlicher Anordnungen der Bau behindert wird (Schwenker, jurisPR-PrivBauR 5/2020, 1, Weber, AnwZert BauR 8/2020, 1).

Höhere Gewalt liegt bei unvorhersehbaren und unbeherrschbaren, von außen kommenden Ereignissen vor, die keinen betrieblichen Zusammenhang aufweisen und auch durch äußerste Sorgfalt nicht verhütet bzw. abgewendet werden können (BGHZ 100, 157; BGHZ 100, 185; BGH, Urt. v. 16.05.2017 – X ZR 142/15). Die Wortwahl des Bundesgerichthofs, „äußerste Sorgfalt“, spricht dafür, dass strenge Maßstäbe anzulegen sind. Der bloße Hinweis des Auftragnehmers auf die Corona-Krise reicht dementsprechend nicht aus.

2. Möglichkeit der Ersatzbeschaffung, vorausschauende Planung

Da die höhere Gewalt nur dann vorliegt, wenn die Auswirkungen durch äußerste Sorgfalt nicht abwendbar sind, ist selbst leichteste Fahrlässigkeit schädlich. Das Bauunternehmen muss alle Möglichkeiten ausschöpfen, um Engpässe wie Material- und/oder einen Arbeitskräftemangel auszugleichen. Der Auftragnehmer muss also – bis zur Grenze der Unzumutbarkeit – erhebliche wirtschaftliche Anstrengungen unternehmen, um den reibungslosen Fortgang sicherzustellen. Die Baumaterialien müssen notfalls bei anderen Lieferanten bezogen werden, ein Arbeitskräftemangel ist – wenn möglich – durch Beauftragung von Subunternehmen zu kompensieren usw. Engpässe, die bei vorausschauender Planung vermeidbar sind, stehen der Annahme der höheren Gewalt ebenfalls entgegen.

Es ist überlegenswert, ob insoweit die alten, vor der Krise zustande gekommenen, und die neuen Verträge unterschiedlich zu behandeln sind. Bei neueren Verträgen gelten wohl strengere Maßstäbe, was die Vorhersehbarkeit etwa eines neuen Ausbruchs angeht. Letztendlich wird es aber auch da auf den Einzelfall ankommen, z. B. falls sich die Situation wieder unerwartet stark verschlechtert.

Die abzuschließenden Verträge sollten eine Force-Majeure Klausel vorsehen, die die Folgen regelt, wenn die Pandemie die Durchführung des Vertrags beeinträchtigt.

3. Fazit

Das Baugewerbe hat eine wichtige Rolle bei der Stabilisierung der volkswirtschaftlichen Entwicklung, was Wohlergehen beider Seiten, des Auftraggebers und des Auftragnehmers, voraussetzt. Vor diesem Hintergrund wird ausgewogene Rechtsprechung, die die Grenzen der höheren Gewalt im Auge behält und dabei angemessen rechtliche Belange der Auftraggeber- und Auftragnehmerseite berücksichtigt, besonders wichtig sein.

Dr. Alexander Seidenberg, Rechtsanwalt, Fachanwalt für Bau- und Architektenrecht

 

Anzahlung für den Senkrechtlift ist nach Widerruf zurück zu gewähren

Die fehlende Widerrufsbelehrung kann dazu führen, dass das Bauunternehmen den vollständigen Werklohn zurückzahlen muss.

Was ist passiert?

Der Bauherr fordert vom Bauunternehmen den Vorschuss in Höhe von 12.435 Euro zurück. Diese Zahlung hat er nach der Bestellung eines Senkrechtlifts für sein Anwesen geleistet. Der Vertrag darüber kam wie folgt zustande: Ein Mitarbeiter der Baufirma hat dem Bauherrn telefonisch die Installation eines Senkrechtlifts an der Außenfassade angeboten. In der Folgezeit hat er den Bauherrn in seinem Wohnhaus besucht und mit ihm einen Vertrag darüber geschlossen, das Auftragsvolumen belief sich insgesamt auf 40.600 Euro, davon war nach Übersendung der Planungsunterlagen zunächst der oben genannte Vorschuss zu leisten. Ca. vier Monate später hat der Bauherr widerrufen und den Vorschuss zurückverlangt.

Was sagt das Gericht?

Die Anzahlung muss das Bauunternehmen an den Bauherrn zurückzahlen (§§ 355 Abs. 3 S. 1, 357 Abs. 1 BGB). Denn die hierfür notwenige Voraussetzungen sind erfüllt:

  • Es handelt sich um einen Verbrauchervertrag; der Bauherr ist ein Verbraucher, die Auftragnehmerin ist ein Unternehmer, der sich zu einer entgeltlichen Leistung verpflichtet hat.
  • Der Vertrag ist außerhalb der Geschäftsräume der Baufirma geschlossen worden (§ 312 g BGB). Er kam beim Bauherrn zu Hause zustande.
  • Bei Lieferung von Waren, die nicht vorgefertigt sind und auf die persönlichen Bedürfnisse des Verbrauchers zugeschnitten sind, ist zwar das Widerrufsrecht ausgeschlossen (312g Abs. 2 Nr. 1 BGB). Dem Wortlaut nach geht es in dieser Norm jedoch nach Ansicht des Gerichts nur um bewegliche Sachen. Der Einbau eines Senkrechtlifts fällt nicht darunter.
  • Der Bauherr hat die Widerrufsfrist eingehalten. Sie beträgt 14 Tage ab Vertragsschluss, wenn der Verbraucher ordnungsgemäß belehrt wird, sonst 12 Monate und 14 Tage (§ 355 Abs. 2 S. 2, 356 Abs. 3 S.2 BGB), sodass der Widerruf nach ca. vier Monaten möglich war.

Aufgrund des rechtswirksamen Widerrufs des Vertrags war der Vorschuss vollständig zurück zu gewähren. Dem Bauunternehmen steht kein Wertersatzanspruch für bis zum Widerruf erbrachte Leistungen, weil er den Bauherrn nicht über das Widerrufsrecht informiert hat (§ 357 Abs. 8 S. 2 BGB).

Was ist zu beachten?

Dass bei Bauverträgen mit einem Verbraucher ein Widerruf möglich ist (z.B. nach § 650 i Abs. 1 BGB oder 312 g Abs. 1 BGB), ist in der Baubranche noch teileweise unbekannt. Das Fehlen einer Widerrufsbelehrung kann dazu führen, dass das Bauunternehmen Leistungen erbringt, die hierfür geleisteten Zahlung aber vollständig zurückgewähren muss.

BGH, Urteil vom 30.8.2018 – VII ZR 243/17, NJW 2018, 3380
§ 312 g BGB, § 355 BGB, § 356 BGB

Ausgleichsanspruch

Haftung für Schäden am Nachbargrundstück

Ausgleichsanspruch

Der Bauherr haftet verschuldensunabhängig, wenn der von ihm beauftragte Handwerker im Rahmen der Bauarbeiten das Nachbargebäude beschädigt.

Was ist passiert?

Der Bauherr lässt bauen, der von ihm beauftragte Handwerker verursacht enorme Schäden am Nachbargrundstück und erweist sich dann als zahlungsunfähig. Für den Nachbarn stellt sich in solchen Konstellationen die Frage, ob und wer für die Schäden haftet.

Was sagt das Gericht?

Die Antwort der Rechtsprechung lautet: der Bauherr schuldet dem Nachbarn einen Ausgleich nach den Grundsätzen der Störerhaftung in entsprechender Anwendung von § 906 Abs. 2 S. 2 BGB . Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (BGH, Urteil vom 9.2.2018 – V ZR 311/16) setzt der Ausgleichsanspruch folgendes voraus:

  • Der Nachbar hat keine Möglichkeit das Übergreifen des Schadens auf sein Grundstück durch Geltendmachung von Unterlassungsansprüchen etc. nach §§ 1004 Abs. 1, 862 Abs. 1 BGB zu verhindern.
  • Die Beschädigungen am Nachbargrundstück sind nicht so geringfügig, dass der Nachbar sie ohne Entschädigung hinnehmen muss.
  • Der Bauherr ist Störer im Sinne des § 1004 BGB, d.h. die Beeinträchtigung des Nachbargrundstücks beruht wenigstens mittelbar auf seinem Willen. Ausreichend ist dabei laut BGH, dass er die Durchführung von Arbeiten beauftragt und dadurch eine Gefahrenquelle schafft.

Das Verschulden des Bauherren ist dabei keine Haftungsvoraussetzung. Verursacht der Handwerker einen Brand, der auf das Nachbargebäude übergreift, sieht der BGH die oben aufgelisteten Voraussetzungen als erfüllt an.

Was ist zu beachten?

Angesichts dieser Rechtsprechung ist es sowohl für den Bauherrn als auch für den Nachbarn sinnvoll, den Zustand des Nachbargrundstücks vor und nach dem Bau von einem Sachverständigen feststellen zu lassen, um den Streit über die Ursache eventueller Schäden möglichst zu vermeiden.

BGH, Urteil vom 9.2.2018 – V ZR 311/16

Diebstahlsrisiko auf der Baustelle

Das Risiko des zufälligen Untergangs und der Beschädigung ist im Werkvertragsrecht gemäß § 644 Abs. 1 Satz 1 BGB verteilt wie folgt:

  • Vor der Abnahme wird das Risiko vom Auftragnehmer
  • Nach der Abnahme wird es vom Auftraggeber getragen

Werden die vom Auftragnehmer zu liefernden Materialien, Werkzeuge, Maschinen usw. vor der Abnahme gestohlen, muss sie der Auftragnehmer auf eigene Kosten erwerben.
(vgl. OLG Saarbrücken, Urteil vom 03.12.2014 – 1 U 49/14)